Vom Umherstreifen und Staunen
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Vom Umherstreifen und Staunen

Eine kleine Verteidigung der Neugier

Wander leads to wonder

Dieser Satz klingt wie eine hübsche Postkarte aus einem Outdoor-Shop. Und doch steckt darin eine erstaunliche Tiefe. Denn Staunen ist selten das Ergebnis von Planung. Es stellt sich ein, wenn wir uns bewegen: durch Landschaften, durch Gedanken, durch Gespräche. Dann, wenn wir nicht schon vorab wissen, was wir finden werden.

Staunen beginnt unscheinbar. Ein Lichtwechsel im Wald. Ein Wort, ein Gedanke, der plötzlich hängen bleibt. Eine Frage, die sich nicht mehr abschütteln lässt. In solchen Momenten öffnet sich etwas: die Welt wirkt einen Spalt breiter, weniger selbstverständlich. Und genau dort setzt Neugier an. Staunen fragt nicht sofort nach Nutzen oder Ergebnis. Es fragt zunächst nur: Interessant. Erzähl mir mehr.

Aus dieser Neugier können viele Pfade entstehen. Manche führen ins Denken, andere ins Gestalten. Viele kreative Prozesse beginnen nicht mit einem Plan, sondern mit Verwunderung. Etwas irritiert, fasziniert, widersetzt sich. Künstler:innen, Autor:innen, Bastler:innen und Tüftler:innen kennen dieses Gefühl gut: Man bleibt an etwas hängen, dreht und wendet es, probiert herum. Staunen ist jetzt kein romantischer Luxus mehr, sondern eine produktive Kraft. Staunen löst festgefahrene Muster und erlaubt neue Kombinationen.

Staunen ist nicht nur Innerlich, sondern überraschend sozial. Wer schon einmal gemeinsam auf einem Gipfel stand oder nachts in den Sternenhimmel geschaut hat, weiß: Staunen verbindet. Worte werden weniger wichtig, Hierarchien verlieren an Bedeutung. Für einen Moment sind alle gleich klein, berührt, offen. In solchen Augenblicken entsteht Empathie fast von selbst. Man sieht nicht nur die Welt, sondern auch die anderen anders.

Doch Offenheit kann auch verunsichern. Staunen führt uns oft an die Ränder der eigenen Komfortzone. Es konfrontiert uns mit dem Nicht-Wissen, mit Unsicherheit, manchmal auch mit Ehrfurcht. Und doch liegt gerade darin sein Potenzial. Wer staunen kann, bleibt lernfähig. Persönliches Wachstum geschieht selten dort, wo alles vertraut ist. Es entsteht, wenn wir uns erlauben, etwas noch nicht zu verstehen und trotzdem weiterzugehen.

Staunen hat außerdem eine stille, meditative Seite. Es zieht uns in den gegenwärtigen Moment. Wer staunt, grübelt nicht gleichzeitig über To-do-Listen oder verpasste Gelegenheiten. Der Blick wird klarer, die Wahrnehmung feiner. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Staunen so wohltuend wirkt: Es unterbricht den inneren Kommentar und lässt die Dinge für sich selbst sprechen.

Auch Wissenschaft beginnt genau hier. Nicht mit Formeln, sondern mit Verwunderung. Warum bewegen sich die Sterne so? Wie organisiert sich Leben? Warum funktioniert etwas, oder eben nicht? Große Entdeckungen sind verdichtetes Staunen, übersetzt in Begriffe, Modelle und Theorien. Ehrfurcht wird nicht abgeschafft, sondern präzisiert. Staunen verliert durch Wissen nicht seinen Zauber, sondern wechselt nur die Form.

Ähnlich verhält es sich mit der Philosophie. Sie beginnt nicht mit Antworten, sondern mit dem Gefühl, dass etwas nicht selbstverständlich ist. Dass Sinn, Existenz oder Moral erklärungsbedürftig sind. Staunen ist der Bruch des Alltäglichen und der Anfang des Denkens.

Bemerkenswert ist, wie zyklisch dieser Prozess ist. Staunen führt zu Entdeckung. Entdeckung erzeugt neues Staunen. Jede Antwort öffnet weitere Fragen. Wer sich darauf einlässt, merkt schnell: Diese Reise hat kein Ziel. Genau das ist ihr Wert: Sie hält uns in Bewegung.

Kinder können staunen. Sie sind es gewohnt, dass sich ihnen tagtäglich eine Welt voller Wunder öffnet. Sie sehen in der Komplexität und Unbegreiflichkeit keine Gefahr, es ist ihr Alltag. Sie stehen morgens auf und kommen aus dem Staunen nicht mehr raus, bis sie abends ins Bett gehen. Im Bett liegend staunen sie über Lichtreflexionen an der Wand oder das Eckchen Himmel, dass sie von ihrem Bett aus durchs Fenster sehen können.

Irgendwann lernen wir dann, dass wir die Welt begreifen sollen. Wir müssen sie entzaubern, um ihr bestehen zu können, als Erwachsene, als Arbeitnehmer:innen, als Konsument:innen. Also legen die meisten das Staunen ab und begeben sich in die Arme der Abgeklärtheit. Wir wissen Bescheid und kennen uns aus. Wir erklären uns selbst und anderen die Welt. Eine Welt, die wir scheinbar vollständig unter Kontrolle gebracht haben. Wir wissen, was morgen passiert und wann welche Post ankommt.

Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind aus der Schule kam und aus dem Briefkasten ein Päckchen hervorlugte. Ich habe meinen Schulranzen abgestellt und so lang an dem zu hoch hängenden Briefkasten genestelt, bis ich das Päckchen in den Händen hielt. Es war für mich, was für eine Überraschung!

Jetzt weiß ich, wer wann was an mich sendet, welche Großeltern wann den Kindern die Weihnachtsgeschenke schicken und dass die Bestellung via DHL heute zwischen 9 und 11.30 Uhr eintrifft. Keine Überraschung. Kein Staunen. Wir haben das Unvorhersehbare aus unseren Leben verbannt zugunsten einer perfekt organisierten Welt.

In meinem Leben habe ich immer wieder versucht, dem etwas entgegen zu setzen. Ich habe mir das Staunen über einen Regenbogen nicht nehmen lassen. Ich halte inne, wenn das Abendlicht den Himmel besonders schön einfärbt oder wenn an einem Baum hängende Regentropfen wie lauter Diamanten glitzern. Und ich lasse andere Menschen daran teilhaben. Ich weise sie auf diese kleinen besonderen Details hin und freue mich, wenn sie ebenso staunend dastehen wie ich. Allzuoft wird Staunen jedoch als Naivität gerahmt und abgetan. Staunen sollen Kinder. Wir Erwachsenen sollen die Welt längst verstanden und kategorisiert haben.

Wenn wir aber das Staunen verlieren, verlieren wir auch unsere Hoffnungen, Träume und Utopien. Nur wer staunt, kann Veränderungen sehen und offene Türen wahrnehmen, die einen anderen Weg offenbaren. Wenn der Weg im Gehen entstehen darf, kann auch das Ziel unterwegs neu definiert werden. Am Ende stehen wir dann da und staunen über den zurückgelegten Weg und die neuen Horizonte, die sich uns auftun.

Staunen lässt sich nicht erzwingen, aber es lässt sich einladen. Indem wir Umwege gehen. Indem wir fremde Perspektiven zulassen. Indem wir nicht alles sofort einordnen und bewerten. Und indem wir unsere Staunmomente teilen – im Gespräch, im Schreiben, im gemeinsamen Unterwegssein.

Am Ende ist das Staunen weniger ein Zustand als eine Haltung. Eine Bereitschaft, sich berühren zu lassen. Offen zu bleiben für das Unerwartete. Wer so unterwegs ist, wird nicht schneller, effizienter oder sicherer. Aber reicher, reicher an Erfahrungen und Bedeutungen.

Also: weiterwandern. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Denn irgendwo zwischen den Schritten wartet meist schon das nächste Staunen.

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Trailmagic